Kleine Hirten, große Wirkung

Viele Kinder und Jugendliche unterstützen im Allgäu in ihren großen Ferien sowie am Wochenende die Arbeit auf den insgesamt 702 Alpen als Kleinhirten. Das ist kein bloßer Zeitvertreib, sondern damit stärken sie die Region und festigen die Existenz der vielen Kleinbetriebe. Um das Engagement zu würdigen, den Eifer zu wecken und das Bewusstsein für die Besonderheiten sowie den Erhalt der Region zu wecken, lobt die Raiffeisenbank Kempten eine Kleinhirtenprämie für insgesamt 100 Nachwuchskräfte aus. Jede und jeder von ihnen erhält von der Bank 100 Euro. Das spornt an. Macht gute Laune. Und es ist überdies sehr gut eingesetztes Geld zur Förderung und Stärkung des nachhaltigen und regionalen Bewusstseins folgender Generationen.

Kleine Hirten, große Wirkung

Die Sonne geht auf, der Blick wird plötzlich weit. Er reicht über grüne Hänge und saftige Wiesen, über Farne und Tannen bis zur nächsten, weit entfernten Bergkuppe, auf der ganz oben Schnee zu sehen ist. Es ist noch sehr früh, aber Tobias Martin und Quirin Brutscher haben sich schon ohne Murren aus den gemütlichen Betten in ihrem gemeinsamen Zimmer unter dem Dach der Alpe Bolgen erhoben, einer kleinen Hütte, die auf 1.368 Metern unterhalb des Riedberger Horns liegt – dem höchsten Berg der Hörnergruppe in den westlichen Allgäuer Alpen. Die beiden trinken kurz etwas, essen eine Scheibe Brot und machen sich direkt an die Arbeit. Aus dem Stall führen sie die zwei Milchkühe, die hier auf der Alpe leben, durch ein Gatter auf die Weide und von dort hinunter an den schmalen Bach, der ins Tal fließt. Anschließend stapfen sie den Weg wieder hinauf.

Mineralien für das Jungvieh

Im Laufe der nächsten Stunden haben Tobias Martin und Quirin Brutscher reichlich zu tun: Sie bringen die 18 Kälber auf die Weide und holen sie abends zurück, führen auch die Milchkühe am Nachmittag zurück zum Stall. Und sie laufen mehrere Stunden die steilen Weiden ab, auf denen das Jungvieh grast. Dort kontrollieren sie, ob alle Tiere gesund und die Elektrozäune noch geschlossen sind, reinigen die Tränken und legen Salzsteine aus, an denen sich das Jungvieh mit Mineralien versorgt. Ihre Aufgaben sind die eines Hirten – aber Tobias und Quirin sind erst 13 und 15 Jahre alt. Die Jungen arbeiten zwischen Ende Mai und Anfang Oktober an den Wochenenden und während der Schulferien als sogenannte Kleinhirten und helfen dabei, dass das Vieh auf der Alpe gehalten werden kann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Ich sehe die Tiere hier aufwachsen und sich verändern, das ist toll!“

Warum die beiden das machen, anstatt wie Gleichaltrige im Freibad schwimmen zu gehen oder Fußball zu spielen? „Ich finde die Natur sehr schön, weil hier so viele Bäume sind und Blumen. Die Luft ist so rein und wenn die Sonne da ist, ist es noch viel schöner“, sagt Quirin, der den zweiten Sommer auf der Alpe verbringt. Hinzu kommt, dass seine Eltern eine Landwirtschaft betreiben, zu der auch das Jungvieh gehört, das im Herbst von den Weiden in den Bergen ins Tal getrieben wird. „Ich kümmere mich hier im Sommer um die ganzen Tiere und sehe, wie sie sich entwickeln. Das gefällt mir gut“, sagt er. Sein Freund Tobias, den er seit frühester Kindheit kennt, bestätigt das. Auch seine Familie hat eine Landwirtschaft: „Ich sehe die Tiere hier aufwachsen und sich verändern, das ist toll!“, erklärt Tobias, der zum vierten Mal bei Thomas und Barbara Willwerth mitarbeitet, die die Alpe betreiben. Außerdem, das sagen beide Jungs, genießen sie die Ruhe und die Arbeit, auch wenn sie manchmal anstrengend sei.

236 Tiere, 420 Hektar

Quirin und Tobias wohnen während ihrer Zeit in den Bergen in der Hütte der Familie. Thomas Willwerth kümmert sich vor allem um die Tiere, seine Frau Barbara um die Bewirtung der Gäste, die im Sommer als Wanderer oder Biker einkehren, um Kaffee und Kuchen oder eine Brotzeit zu genießen. „Für uns ist es sehr wichtig, dass die Jungs hier sind. Wir haben das Vieh auf einer sehr großen Fläche verteilt und müssen jeden Tag danach schauen. Dabei unterstützen die beiden sehr gut“, sagt Thomas Willwerth, während er hilft, die Kälber auf die Weide zu bringen. Der 48-Jährige, der bei der Alpgenossenschaft Bolgen angestellt ist, die die Alpe betreibt, betreut insgesamt 236 Tiere. Diese grasen auf einer Fläche von 420 Hektar, 270 Hektar davon sind Weideland.

Der gebürtige Obermaiselsteiner – das Dorf liegt im Tal, 15 Minuten mit dem Auto entfernt – war selbst einmal Kleinhirte. Er absolvierte eine Lehre als Schreiner, um schließlich doch wieder auf dem Berg zu landen. Als die beiden Kinder der Willwerths noch kleiner waren, arbeiteten sie ebenfalls als Kleinhirten für die Familie; auch heute helfen sie noch regelmäßig aus. Neben der aktuellen Hilfe hat das Engagement der Jungen aber auch eine nachhaltige Wirkung für die Region: „Fast jeder, der heute als Hirte auf den Alpen arbeitet, war früher mal Kleinhirte“, sagt Thomas Willwerth. „So tragen sie vielleicht auch dazu bei, dass die Arbeit auch in Zukunft geleistet werden kann.“

Sicherung und Festigung der Region

Wie wichtig diese Form der Nachwuchsförderung ist, belegen die Zahlen. Insgesamt gibt es 702 Alpen, auf die ungefähr 32.000 Jungrinder getrieben werden – 46 der Alpen produzieren auch Bergkäse. Die Tiere wachsen in der Idylle der Berge auf und werden später als Milchkühe im Tal gehalten. „Um diese Arbeit auch weiter leisten zu können, benötigen wir die Kleinhirten“, sagt Christian Brutscher. Er ist der Vater von Quirin und gleichzeitig 1. Vorsitzender des Alpwirtschaftlichen Vereins im Allgäu. Mit 1.840 Mitgliedern kümmert sich die Organisation um alle möglichen Themen, die die Wirtschaft auf den Alpen betreffen, die wie die Alpe Bolgen zur Hälfte Genossenschaften gehören – ob es um Baumaßnahmen an den Hütten, die Wasser- und Stromversorgung, die Materialien für die Zäune geht oder ganz aktuell um Probleme mit durchziehenden Wölfen oder Bären. Der Verein setzt sich zudem für die öffentliche Förderung der Alpwirtschaft ein: „Ohne diese können wir die Alpen nicht rentabel bewirtschaften“, sagt Christian Brutscher. Dabei geht es auch um mehrere Tausend vor allem nebenberufliche Arbeitsplätze.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Bonus für den Älpler-Nachwuchs

Für die Raiffeisenbank Kempten-Oberallgäu sind die Kleinhirten ebenfalls ein Thema. Die Bank unterstützt sie seit 2009 jährlich mit insgesamt 10.000 Euro. Für die sogenannte Kleinhirtenprämie können sich alle Alpen in der Region bewerben, um den Älpler-Nachwuchs zwischen 10 und 17 Jahren zu fördern. Die einzige Bedingung ist, dass die Kinder und Jugendlichen mindestens vier Wochen auf einer Alpe im Geschäftsgebiet der Bank tätig sind – je nach Einsatzzeit bekommen sie Summen zwischen 50 und 100 Euro. Für Wilhelm Oberhofer ist das Geld, mit dem im vergangenen Jahr insgesamt 105 Kleinhirten gefördert wurden, gut angelegt. „Wir kommen als Raiffeisenbank aus der Landwirtschaft“, sagt das Vorstandsmitglied der Raiffeisenbank Kempten-Oberallgäu, der südlichsten Kreditgenossenschaft Deutschlands. „In unserer Region bedeutet das vor allem: Milch- und Alpwirtschaft.“

Große Zufriedenheit und Freude

Während er das sagt, schaut Wilhelm Oberhofer den Kleinhirten zu, die gerade noch einmal einen Teil des Zaunes versetzen, um die Kälber zur Tränke zu lassen. Er deutet den Berg hinauf, auf dem sich die Tiere, so weit der Blick reicht, verteilt haben. „Neben dem landwirtschaftlichen Nutzen sorgt das Jungvieh aber auch für etwas anderes: Es hält die Weiden frei und verhindert so die Verbuschung der Berge. „Ohne die Tiere wären auch die Wanderwege von dichtem Grün umgeben – und die Touristinnen und Touristen, die wiederum auf den Alpen verköstigt werden, würden ausbleiben. Wilhelm Oberhofer ist begeistert von den Kleinhirten, das ist ihm anzusehen. „Die Jungs strahlen Zufriedenheit und Freude aus. Das empfinde ich auch, wenn ich hier stehe – man kann sich dem Alltag entziehen, die Landschaft genießen und zuschauen, wie etwas Wertvolles für die Region entsteht.“