Die Volks- und Raiffeisenbank Saale-Unstrut lässt Schülerinnen und Schüler die Entstehung des Naumburger und Merseburger Doms spielerisch erforschen. „Maß und Zahl“ lautet der Name des pädagogisch wertvollen Projekts, das die Bank bereits seit 2014 unterstützt. Sie bringt dem Nachwuchs dabei nicht nur mathematisches und historisches Wissen spannend und verständlich nahe, sondern macht die Mädchen und Jungen auch zu Experten der Wahrzeichen ihrer Region.
Vor mehr als 1.000 Jahren stand Bischof Thietmar auf einem Hügel oberhalb der heutigen Stadt Merseburg und wartete darauf, dass die Sonne aufging. Es war der 24. Juni, der längste Tag des Jahres – die Sommersonnenwende. Zuvor hatte er einen Stab in die Erde gerammt – und als das Licht den ersten Schatten warf, zog er diesen nach und legte so die Ausrichtung des Hallenbaus der Kirche fest. Anschließend verteilte er zwölf Steine. An diesen orientierten sich die Arbeiter, die in den folgenden Jahren ein Kirchenhaus bauten, das in seinen Grundzügen auch heute noch in der sachsen-anhaltinischen Stadt steht.
Wie dieser Bauprozess funktioniert hat, ohne moderne Baumaschinen, am Computer gezeichneten Plänen oder zumindest geeichten Messgeräten – für Laien ist das ein Rätsel, erst recht, wenn man sich den im Jahr 1015 geweihten, beeindruckend großen Dom anschaut. Aber die Bauherren der damaligen Zeit wussten sich zu helfen, mit manchmal einfachen Mitteln und gelegentlich auch ein wenig Toleranz, wenn die gewünschten Maße nicht auf den Zentimeter eingehalten wurden.
Einfache Grundprinzipien
Viele dieser Methoden beruhen auf einfachen, seit Jahrtausenden bekannten mathematischen Grundprinzipen. Die Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz haben daraus eine spannende und spielerische Lehrstunde für Schülerinnen und Schüler entwickelt. Unterstützt wurde die Institution, zu der unter anderem die Dome in den beiden nur 30 Kilometer auseinanderliegenden Gemeinden gehören, dabei vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulqualität Sachsen-Anhalt.
Heute nimmt Beate Tippelt, die für das Besucherprogramm in Merseburg verantwortlich ist, eine Gruppe Mädchen mit auf die Reise in die Vergangenheit, die unter dem Projektnamen „Maß und Zahl“ in beiden Domen angeboten wird. „Am Anfang gehen wir erst einmal durch den Dom, dessen Besonderheiten die Kinder entdecken sollen. Die große Orgel aus dem 17. Jahrhundert zum Beispiel, die alte Grabplatte von Bischof Thietmar, das Portal zur Fürstengruft, die Krypta“, erklärt die Expertin, die sich seit mehr als 30 Jahren hier engagiert und deren Eltern schon durch den Dom geführt haben. Lena, Alicia, Ella und Lucy, so heißen die vier Zwölfjährigen, folgen dabei einem Anleitungsheftchen, in dem sie ihre Erkenntnisse eintragen.
Etwas später dann kommen die ersten Übungen. Die Schülerinnen des Johann-Gottfried-Herder-Gymnasiums aus Merseburg gehen in eine dunkle Kammer und entdecken dort in einer Art Schatzkiste eine Schnur mit zwölf Knoten. Sie rätseln zunächst ein bisschen herum, bis Beate Tippelt ihnen erläutert, dass sie, wenn sie diese in drei, vier und fünf Abschnitte unterteilen und zu einem Dreieck legen, einen rechten Winkel erzeugen können. „Mit diesem einfachen Hilfsmittel wurde damals auch gearbeitet, um den Bau auszurichten.“
Ausprobieren statt aufschreiben
Die Mädchen finden zudem zwölf Steine, verteilen diese auf dem Boden in Form eines Kreuzes, richten sie mit der Knotenschnur aus und ziehen die entstehenden Umrisse mit Kreide nach. Anschließend gehen sie zurück in den Dom und messen mit einer langen Schnur zunächst die Länge, dann die Breite der einzelnen Gebäudeteile nach. „Die sind entweder gleich groß oder immer ein Vielfaches“, sagt Ella, die von Beate Tippels zur Team-Kapitänin ernannt worden war. Die Freundinnen sind mit Feuereifer dabei. „Das macht echt Spaß. Ich fand es sehr interessant, zu wissen, dass der Dom von oben ein Kreuz ergibt“, erzählt Ella, die in Mathematik in der Schule, wie sie sagt, „nicht ganz so gut“ ist. „Ich finde das auch nicht immer so spannend, aber hier schon. Wir konnten so viel ausprobieren, anstatt immer was auf Papier aufzuschreiben.“ Ihre Freundin Alicia bekräftigt das. „Ich fand sehr schön, dass man hier sehr viel rumlaufen kann und nicht nur wie in der Schule auf einem Stuhl sitzen muss.“ Sie nickt noch einmal. „Und es war echt interessant, dass wir mit den Seilen rechte Winkel messen konnten – das ist ja ganz anders als mit so einem Geodreieck.“
Anders zu lernen, für Beate Tippelt ist das einer der Aspekte, warum „Maß und Zahl“ so sinnvoll ist. „Die Kinder sollen Geschichte und Mathematik miteinander verbinden können und gleichzeitig vieles selbst machen“, sagt die Gästeführerin. „Dadurch lernen sie viel besser, ist mein Eindruck.“ Jens Vogt sieht das ganz genauso. Der Individualkundenberater der Volks- und Raiffeisenbank Saale-Unstrut eG ist heute zu Besuch im Dom, um sich das Projekt aus der Nähe anzuschauen. Sein Arbeitgeber fördert es seit 2014 finanziell und materiell. „Als wir es damals kennenlernten, waren wir schnell Feuer und Flamme“, sagt er. Der Grund dafür: „,Maß und Zahl‘ führt Theorie und Praxis zusammen. Und das macht den Lehrplan und den Schulstoff bunter.“
„Mathematik hat kein Verfallsdatum“
Dass viele Kinder in der Schule oft eher wenig Interesse am Messen und Rechnen haben, ist wohl für fast jeden Erwachsenen nachvollziehbar. Für Jens Vogt ist aber auch klar: „Mathematik hat kein Verfallsdatum. Der Satz des Pythagoras oder die Berechnung eines Flächeninhalts haben wir schon vor vielen Jahren in der Schule gelernt und sind damit umgegangen“, sagt er. „Dabei ist es heute besonders wichtig, einfach auch neue Wege im Unterricht zu gehen.“ Und das bedeutet für ihn, manchmal eben auch alte Wege zu beschreiten, wie das Ausrichten mit einer Knotenschnur. Für Vogt ist „Maß und Zahl“ eines von vielen Projekten, mit denen die regional ausgerichtete Bank ihre Kundinnen und Kunden, aber auch alle anderen Menschen erreichen möchte. „Die Schulzeit ist natürlich eine wichtige Phase. Wir sind dann da und hoffen natürlich auch, dass die Kinder und Jugendlichen uns lange begleiten.“
Neben der Mathematik lernen die Kinder aber auch Grundbegriffe der Kirchenarchitektur kennen, Wissen zur Romanik und Gotik, Geschichte und Kunst. Ganz zum Schluss des Programms sammeln sich die jungen Teilnehmerinnen mit Beate Tippelt in einem Raum, in dem sie die letzte Aufgabe lösen sollen. Auf einem großen Blatt Papier zeichnen sie den Grundriss des Doms auf und malen die einzelnen Felder farbig aus. Dann schiebt Beate Tippelt eine Kiste mit Holzklötzen heran. „Baut damit den Dom auf dem Grundriss auf“, sagt sie und die Mädchen, die seit Jahren nicht mehr mit Bausteinen spielen, legen direkt los. In wenigen Minuten haben sie gemeinsam das Gebäude nachgebaut, inklusive der Erker und Türme. Sie halten kurz inne, schauen ihr Werk an – und reißen es danach wieder ab, damit die nächste Gruppe ebenfalls von Anfang an starten kann. „Das Ganze hat richtig Spaß gemacht“, sagt dann noch Ella, stellvertretend für alle – und dann geht es ins Freibad.